Zynismus pur: „Unter den Opfern auch Deutsche“

Radio: „Essen. Eine 16-jährige soll einen Obdachlosen mit Tritten gegen den Kopf schwer misshandelt haben.“
Person: „Oh mein Gott, wie furchtbar!“

Ja. Furchtbar, grausam, unmenschlich. Bitte: Beiden helfen, dem Obdachlosen sowieso, aber der mutmaßlichen Täterin auch. Wenn ein Gericht es befindet: Strafe. Thema abgehakt.

Warum aber kommt das in den Nachrichten? Weil Weihnachten ist? Weil die einzelne Tat so unvorstellbar, so verstörend ist? Warum kommen nicht andere Dinge in den Nachrichten, wie etwa täglich die hunderten bis tausenden ertrinkenden Flüchtenden im Mittelmeer? Weil sie uns nicht betreffen? Weil sie so weit weg sind?

Man kommt von dieser Überlegung schnell zu der typischen Meldung über einen Flugzeugabsturz: „Jet der Airline X in Y abgestürzt, unter den Opfern waren Z Deutsche“. Das nachdenkliche Googeln fördert den Kommentar von Edith Kresta in der tageszeitung zu Tage, geschrieben nach dem Absturz von 4U 9525. Ich neige in einigen Punkten zu innerem Widerstand:

Ja, wir fühlen und handeln (und denken damit) lokal. Aber was ist denn das lokale hier? Bin ich Bonner, Kölner, Rheinländer, Westdeutscher, Deutscher, Westeuropäer? Angela Merkel sagte über Hans-Dietrich Genscher anlässlich des Staatsaktes zu seinen Ehren, er sei ein „Patriot und überzeugter Europäer“. In Europa fühlen sich viele Menschen wohl ganz ähnlich, vielleicht eher als Lokal- denn als Nationalpatrioten, und als Europäer sind wir stolz auf die EU (oder nutzen in den übrigen Fällen zumindest die offenen Grenzen ganz gerne).

Aber warum sollte ich mich einem Nachbarn in Maastricht weniger verbunden fühlen als einem Mitbürger im Osten Deutschlands? Ich brauche nach Holland eine Stunde, nach Brüssel zwei und nach Berlin fünf – und während sich von hier aus alle Richtungen für Kurzurlaube eignen (was hier nicht das Thema ist), so liegt das Meer nur in einer Richtung einigermaßen nahe. Ich bin also deutlich häufiger zum Urlauben bei den Nachbarn im Westen und deutlich häufiger zum Arbeiten im eigenen Land im Osten. Ist das der Unterschied? Arbeit und Freizeit? Nachbar und „eigenes Land“?

Ich finde die Schubladen an dieser Stelle absurd. Vor allem diese Opfer-Schublade, denn sie suggeriert für mich eine sonderbare Nähe.

Als Rheinländer könnte ich vielleicht verstehen, dass man „x Kölner und y Bonner“ unter den Opfern meldet (und Düsseldorfer auch). Als Europäer könnte mich der Anteil an Europäern bewegen. Man merkt: eigentlich ist das alles Quatsch. Nur funktioniert die Nachricht nicht so gut, wenn man nur noch von Menschen spricht, und auch Medien müssen sich verkaufen. Darin liegt für mich letztlich auch die einzige Ursache.

Ich habe wenig Hoffnung, dass diese Floskel irgendwann einmal aus den Medien verschwindet — die Opfer bleiben weiterhin Deutsche, Engländer oder Franzosen. Oder Erdling, aber das erst nach dem ersten Kontakt. Ein Schritt in die Richtung wäre es vielleicht, uns an dieser Stelle auch als Europäer zu verstehen.

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